Zitat von Noir_Desir
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Sowohl Magersucht als auch BED oder Bulimie (oder andere Essstörungen, aber ich rede jetzt mal nur von denen die ich selbst erlebt habe) sind Süchte, das heißt man verliert die Kontrolle über das eigene Verhalten. Bei Magersucht fühlt sich das aber nicht so an. Ich hatte das Gefühl, das Mind-over-matter-Prinzip perfektioniert zu haben, die komplette Kontrolle über meinen Körper zu haben. Wenn ich davor Diäten gemacht habe hab ich immer versucht mein Hungergefühl auszutricksen, z.B. durch Kaugummi-kauen oder literweise Diät-Cola. Als Magersüchtige hab ich mir gesagt, ich brauche das alles gar nicht mehr, so großes Vertrauen hatte ich in meine Disziplin. Ich bin morgens aufgestanden und wusste dass ich den ganzen Tag nur hundert Kalorien essen würde, ich hab keine Sekunde lang daran gezweifelt dass ich das schaffen würde; ich wusste es gibt absolut nichts was dazu führen würde dass ich mehr esse als mein Kalorienlimit für den Tag. Und jeden Morgen hat mir die Waage Recht gegeben. Jedes Mal wenn ich draufgestiegen bin waren da ein paar hundert Gramm weniger auf der Anzeige. Ich war in einem Rausch, ich wollte immer mehr von diesen immer kleineren Zahlen, jeden Morgen auf der Waage war dieses Hochgefühl, jeden Tag hab ich mich geistig stärker gefühlt.
Hunger hat sich nicht unangenehm angespürt, ich hab ihn genossen. Ich bin abends im Bett gelegen, eine Hand auf meinem Hüftknochen, die andere auf meinem flachen Bauch, habe in die Leere in mir hineingehorcht und dabei eine Überdosis Glücksgefühle ausgeschüttet.
Natürlich gab es auch in dieser Zeit große Ängste. Meine größte Angst war Essen. Vor bestimmten Nahrungsmitteln habe ich mich wirklich gefürchtet als wären sie vergiftet. Wenn mich meine Eltern zum Essen gezwungen haben bin ich vor dem vollen Teller gesessen und alles in mir hat sich dagegen gesträubt die Gabel zu meinem Mund zu bewegen. Auch essen wenn andere zusehen war schlimm.
Aber solange mein Gewicht weiter runterging konnte ich alles ertragen, den Hunger, die Kreislaufprobleme, das Frieren, das Unverständnis meiner Mitmenschen, die soziale Isolation, das Desinteresse an meinen früheren Hobbies... Meine Droge Gewichtsverlust hat mir jeden Tag ein High beschert das stärker war als all das.
Essen war mein Feind, die Waage war mein Freund.
Heute, in der Bulimie, ist das genaue Gegenteil der Fall. Ich bin verrückt nach Essen und verfluche deshalb die Waage. Essen ist meine jetzige Droge. Während ich als Magersüchtige ein Ziel hatte, und das Gefühl hatte mit jedem Tag näher an dieses Ziel heranzukommen, habe ich jetzt das Gefühl mich immer weiter von diesem Ziel zu entfernen, und eigentlich immer nur Schadensbegrenzung zu betreiben. Es fühlt sich absolut nicht so an als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper, sondern als hätte mein Körper die Kontrolle über mich und mein komplettes Leben. Das was mir als Magersüchtige ein High verpasst hat (Gewichtsverlust, die Fähigkeit zur Abstinenz von Essen, Leeregefühl, Selbstkontrolle, Knochen) war ja genau das was ich erreichen wollte. Ich will heute immer noch all diese Dinge, aber mein High kommt von etwas was das exakte Gegenteil bewirkt, nämlich von großen Mengen Nahrung. Als Magersüchtige hab ich meine Endorphinschübe gefeiert, weil sie mir geholfen haben dorthin zu kommen wo ich hinwollte. Heute hasse ich die Tatsache dass ich diese Endorphinschübe bekomme, weil sie von etwas kommen was mich von der Person entfernt die ich sein will.
Ich habe null Vertrauen mehr zu mir selbst. Ich wache nicht morgens auf und denke "heute werde ich nicht essen, komme was wolle!", sondern "bittebittebitte mach dass ich es schaffe heute irgendwie unter 2000kcal zu bleiben und keinen Binge zu haben!". Ich schau nicht an mir runter und denke "wow, ich kann alles schaffen!", sondern "was zur Hölle machst du da?! Du ruinierst dein Leben! Hör auf damit! Da bist so ein sinnloses Stück Scheiße!"
Ich hungere nicht mehr mit dem Ziel, noch dünner zu werden, sondern nur noch mit dem Ziel, mit Ach und Krach meinen letzten Binge auszugleichen um mich ein kleines Bisschen weniger zu hassen. Als Magersüchtige hatten meine Anstrengungen das Resultat das ich haben wollte; als Bulimikerin denke ich, ich schmeiß mein ganzes Leben weg für etwas was ich eigentlich nicht will.
Ich habe keine Angst mehr vor Essen, sondern es zieht mich magisch an. Sobald ein Nahrungsmittel vor mir steht kann ich an nichtss Andere mehr denken, der Rest der Welt wird unwichtig, und ich werfe alle Träume und Ziele über Bord. Hunger ist keine positive Bestätigung mehr dafür dass ich alles richtig mache, er ist rasend und stechend und brüllt mich an und bringt mich dazu die unmoralischsten Dinge zu tun. Meine frühere Sucht war fast wie eine Freundin, meine jetzige Sucht ist mein guilty pleasure.
Damals dachte ich, ich bin auf mich allein gestellt weil die ganze Welt mein Feind ist und mich sabotieren will. Heute denke ich, der Feind der mich sabotiert bin ich selbst.
Ich hatte zwei längere Binge-eating-Phasen, auf die geh ich aber nicht mehr näher ein weil sie im Grunde recht ähnlich sind wie die Bulimie, nur minus das kompensierende Verhalten nach einem Binge. Ich hab in ständiger Verdrängung gelebt, insgeheim gewusst was ich mir antue, aber mit allen Mitteln versucht nicht daran zu denken, was zu einer ziemlichen Entfremdung von mir selbst und der Welt geführt hat, und früher oder später immer nach hinten losgegangen ist.
Das soll keineswegs so klingen als wäre meine magersüchtige Zeit ein Hochgenuss gewesen, sie war schrecklich und ich wünsche das meinem ärgsten Todfeind nicht an den Hals. Beides ist eine furchtbare Sucht, aber sie fühlen sich sehr unterschiedlich an. Das sind auch nur meine subjektiven Empfindungen und ich sage NICHT dass dieser Beitrag auf alle Essgestörten zutreffen muss.
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